Ojo Morado

"Ojo Morado" das Straßenkinder-Theater aus Cochabamba!

Die Theatergruppe „Ojo Morado“, zu deutsch: „Blaues Auge“, gastierte während einer Deutschlandtournee am 04. November 2001 im Kellertheater „Mobile“ in Zwingenberg. Die Gruppe setzt sich aus ehemaligen Straßenkindern zusammen, die einem Hilfsprojekt für Straßenkinder in der Stadt Cochabamba angegliedert ist. Durch eine erfolgreiche erste Tournee im Jahr 1999 ermuntert, war die Gruppe wieder durch Deutschland unterwegs, im Rahmen der Unesco-Kinderkarawane, um mit einem Stück in spanischer Sprache die eigene Problematik plakativ darzustellen.

Das sehenswerte Stück war auch für Leute ohne Spanischkenntnisse interessant, da es leicht verständlich war, sehr viel mit Gestik arbeitete und vor Beginn eine kurze Einführung in Deutsch gegeben wurde.

Der Kontakt zu uns kam durch einen unserer Kalendersponsoren, „aventoura reisen“ zustande, der die Tournee organisierte. INTI RUNA kümmerte sich um die örtliche Organisation, z.B. wurde der Aufenthalt der Gruppe durch die Stadt Zwingenberg finanziert, so daß sämtliche Einnahmen des Abends (knapp 1.200.- DM) in das Projekt in Bolivien flossen.

Theaterkritik aus dem Bergsträsser Anzeiger, von Doris-Jean Petereit, 08.11.01:

Geld macht glücklich! Oder doch nicht?

Mit ihrer recht ungewöhnlichen Aufführung „Der Lotterieschein“ präsentierte die bolivianischen Theatergruppe „Ojo Morado“ („Blaues Auge“) ihren Zuschauern im Theater Mobile ein Lustspiel, dessen „Happy End“ diese Frage bejahte. Zumindest vordergründig. Verpackt hinter dieser Aufführung, deren Nuancen von feinem Witz bis zur Klamotte reichte, steckte jedoch sehr wohl genügend Kritisches, um zum Nachdenken anzuregen.

Zunächst einmal forderte das Spiel der bolivianischen Straßentheatergruppe seinen Zuschauern einiges an Aufmerksamkeit ab. Denn die Schauspieler präsentierten ihre Aufführung just so, wie sie auch das bolivianische Publikum erlebt – in Spanisch. Dank des Programms und einer Inhaltsangabe voller Witz kannte das Publikum zu Beginn zwar den Inhalt, stand jedoch vor der Aufgabe, sich viel intensiver als gemeinhin gewohnt auf seine Augen und Assoziationen zu verlassen, wollte es dem Spiel folgen. Um es vorwegzunehmen: Dieses (zusätzliche) Spiel glückte durchaus!

Der Inhalt selbst ist schnell erzählt: In einem Mietshaus legen die Bewohner in der Hoffnung auf den großen Lotteriegewinn wöchentlich das bisschen Geld, das sie gerade noch erübrigen können, zusammen, um sich ein gemeinsames Los zu kaufen, jede Woche die gleiche Losnummer. Nun, man muss nur an all die schon gelesenen oder gehörten Dramen von Lotto-Tipgemeinschaften denken, um sich auszumalen, was auch auf dem kleinen Hinterhof der Hauptstadt von „Humanien“ passierte, als dieses mit so viel Hoffnung auf ein besseres Leben besetzte Los gewinnt! Die anfängliche Ungläubigkeit, Fassungslosigkeit, dann die Ohnmachten, dann das rauschende Fest! Aber dann! Die ersten Zänkereien, wem nun welcher Anteil zusteht, lassen nicht lange auf sich warten. Und fast zwangsläufig ereilt die eben noch so überglücklichen Gewinner das Unheil. Nicht nur in Form von Streit und Zwist, sondern auch ganz real. Denn über all dem Zoff frisst ein höchst köstlich blödes Huhn auch noch den wertvollen Lotterieschein. Da ist nicht nur das Geld hin und damit das schon sicher geglaubte bessere Leben – weg von der Waschbütte, weg von den ungeliebten und unsicheren Gelegenheitsjobs. Da zerbricht auch die Freundschaft untereinander und eine zarte Liebe.
Die mit den Stilmitteln der Commedia dell’arte spielenden (im doppelten Wortsinn!) Gaukler verstanden es, auch ohne (für die meisten unverständlichen) Worte, die Mühseligkeiten des Alltags, die ganze zwischenmenschliche Palette von Hoffnung, Freude, Ärger und Enttäuschung „rüberzubringen“. Dass am Ende sich alles in Wohlgefallen auflöst, weil das dumme Huhn – oh unglaubliche Freude! – den Lotterieschein der vergangenen Woche zerpickt hatte und der aktuell gültige vom 4. November 2001 (ein nettes Erfolgserlebnis: das verstanden sogar des Spanischen Unkundige!) wieder auftaucht, ist dennoch ein Happy-End mit Vorbehalt. Jeder krallt sich seinen Teil des Geldsegens – recht schnell und eilt damit alleine davon. Und wenn das Liebespaar am Ende das zerbrochene Herz vom Boden aufhebt und wieder zusammensetzt, dann geschieht auch das nicht mit überschwänglicher Freude, sondern leise. Der Riss ist zwar wieder zusammengefügt, aber die ursprüngliche Einheit ist dahin. Der wucherische Vermieter wird sich auch in Zukunft nicht ändern, die hohe Geistlichkeit nicht und ebenso wenig das Gefälle zwischen „Weiß“ und „Schwarz“.

Die Aufführung lebte von vielen Details voller Witz, die immer wieder lächeln ließen. So als der eselsköpfige Autofahrer mit seiner vom (welt-)berühmten Stern gezierten Radkappe sich keinen Deut um die Anweisungen des Hilfspolizisten und auch nicht um die anderen Verkehrsteilnehmer schert. Zauberhaft der große gelbe Mond über den Häusern samt Katze davor. Köstlich der ohnmächtige Säufer, dessen Hand dennoch sofort den Entzug der Flasche bemerkt und nachdrücklich wieder danach verlangt.
Die Leistung von Ojo Morado ist um so beieindruckender, als die insgesamt neunköpfige Theatergruppe mit vier jugendlichen Theaterschülern besetzt ist. Jede Bewegung „sitzt“, der Körper „spricht“. Denn das Spiel der maskenlosen Mimik ist allein den beiden Liebenden vorbehalten. Die übrigen Akteure tragen ihre Masken. Dass das große Lachen ausblieb, mag daran gelegen haben, dass der Witz der Sprache hier gewissermaßen „verpuffte“. Auch erschlossen sich viele Bilder, die in Bolivien vermutlich sofort und problemlos verstanden werden, nur widerwillig oder gar nicht.
Dennoch war es ein gelungener Abend. Vieles ist eben überall auf der Welt gleich. Und was fremd oder schwer verständlich schien, darf als Anreiz betrachtet werden, sich einmal näher damit zu befassen.