Andreas Motschmann aus Altenkunstadt unterrichtet seit fast 14 Jahren an der Deutschen Schule in La Paz. Er berichtet über die Pandemie aus dem Andenland Bolivien:

Monatelange harte Einschränkungen / Nur 35 Intensivkrankenbetten in Bolivien.
Nach Bekanntwerden der ersten Corona-Fälle ließ die bolivianische Regierung unmittelbar alle Schulen und öffentlichen Einrichtungen im Land schließen. Mein Unterricht ist seit dem 12. März digital, von zu Hause aus. Zwölf Mal in der Woche habe ich Kleinstgruppen. Da viele Eltern ihren PC tagsüber für die Arbeit brauchen, unterrichte ich zwei Teilgruppen am Nachmittag, die letzte um 17.30 Uhr. Elternabende und -gespräche finden am Abend ebenfalls digital statt.
Die Regierung hatte schnell und radikal reagiert vermutlich aus der Erkenntnis heraus, dass das bolivianische Gesundheitssystem in einem katastrophalen Zustand ist. Nur 35 Intensivkrankenbetten gab es anfangs im ganzen Land.
So waren die Einschränkungen in der landesweiten Quarantäne: Autofahren war total verboten, die Grenzen waren geschlossen. Einen öffentlichen Personentransport gab es nicht, weder Bus noch Bahn noch Taxi noch Seilbahn in La Paz. Einkaufen nur in der unmittelbaren Nachbarschaft nur einmal pro Woche, geregelt über die Endziffer des Personalausweises. Am Wochenende komplette Ausgangssperre für alle und wochenlanges Ausgangsverbot für Kinder unter 18 und Senioren über 65.
Die Einschränkungen galten zunächst bis zum 15. April, wurden aber immer wieder verlängert. So durfte ich erst nach 10 Wochen werktags mein Auto wieder benutzen. Meine Frau Cintia musste ihren Friseursalon komplett schließen. Im Anschluss durfte sie von Montag bis Freitag von 7 bis 16 Uhr unter strengen Auflagen öffnen. Am Wochenende durften wir nach wie vor nur zu Fuß das Haus verlassen.

Familienangehörige und Freunde in Deutschland fragten immer wieder, wie wir bei diesen extremen Einschränkungen durchhielten? Ehrlich gesagt, erstaunlich gut. Trotz Verbot bin ich am Abend in unserer abgelegenen Wohnsiedlung heimlich spazieren gegangen. Ich hatte dabei schon manchmal ein mulmiges Gefühl, speziell wenn ich ein Auto hörte – ein Polizeiauto? Meine Frau nähte, wir putzten gründlich unser kleines Häuschen. Brötchen backen alle vier bis fünf Tage, Karten- und Tischspiele täglich am Abend, tägliches Vorbereiten des Online-Unterrichts. Ich genoss, beim Unterricht im Freien unter dem Vordach und nicht im engen Haus zu sitzen. Den runden Geburtstag meiner Frau konnten wir nur zu zweit feiern. Nachbarn brachten bolivianischen Kuchen, wir revanchierten uns mit deutschen Brötchen.

Ab 1. Juni gab es erste Lockerungen. Zweimal in der Woche durften wir das Haus verlassen. Die überwiegend arme Bevölkerung hielt die Einschränkungen nicht mehr durch. So gab es trotz steigender Infektionszahlen Lockerungen. In Bolivien leben viele von der Hand in den Mund. Sie haben kleine Geschäfte in der Stadt und hatten, wie Taxi- und Busfahrer auch, über viele Wochen keine Einnahmen. Es kam zu ersten Protesten.
Immer wieder wurde versucht, die steigenden Zahlen einzudämmen. Am Stadtfeiertag, dem 16. Juli, wurde La Paz gleich für vier Tage in Folge dichtgemacht. Diese vier Tage änderten an der rasanten Entwicklung nichts.
Ab Juli stiegen die Zahlen rasant auf über 2.000 Infektionen pro Tag. Anfang Juli hatten wir 60.000 Corona-Fälle, eine extrem hohe Zahl für ein Land mit zirka 12 Millionen Einwohnern. In der offiziellen Statistik lag Bolivien bei den Toten pro 100.000 Einwohnern nach Peru und Belgien im September an 3. Stelle!


Menschen starben vor der Pforte der Klinik.
Im August durften wir wiederholt an zwei Wochenenden jeweils Freitag, Samstag und Sonntag nicht raus: Gesundheitsexperten in La Paz gingen von Haus zu Haus und testeten die Einwohner. So wurden an einem Tag über 300 neue Fälle gefunden. Bei uns kam niemand vorbei.

Trotz der strikten Maßnahmen stiegen die Zahlen neuer Infektionen im ganzen Land. Das marode Gesundheitswesen hatte unhaltbare Zustände zur Folge: Menschen konnten nicht mehr in den Kliniken versorgt werden. Sie starben vor der Pforte der Klinik. In der Verwandtschaft meiner Frau gingen viele trotz Symptomen nicht zum Arzt oder in die Klinik; sie erwarteten sich keine Hilfe. Der Großteil der Bevölkerung hat keine Krankenversicherung; entstehende Behandlungskosten können sie nicht bezahlen. Leichte Krankheitssymptome kurierten die Menschen mit unterschiedlichen Kräutern als „Hausmittel“. Eine hohe Dunkelziffer an Erkrankungen im Land ist zu vermuten.
Bis Oktober durfte in der einen Woche das Haus dreimal verlassen werden, in der anderen Woche zweimal. Es wurde durch die Endnummer des Ausweises geregelt. Nur an diesen Tagen durfte man im Supermarkt einkaufen oder Bankgeschäfte erledigen. Bei den Banken bildeten sich lange Warteschlangen. An Straßenkreuzungen kontrollierten Polizei und Militär die Ausweise.

Ab September Lockerungen wegen Wahlkampf.
Trotz der dramatischen Corona-Situation wurden die strengen Maßnahmen ab dem 1. September gelockert: Ausgehverbot nur nachts. Zu vermuten ist, dass der Wahlkampf vor der Präsidentenwahl am 18. Oktober nicht behindert werden sollte. Die Politik hatte vermutlich Angst vor Ausschreitungen. Die Präsidentenwahl war ab Mai zweimal bis Oktober verschoben worden. Von der Opposition hatte es immer wieder heftige Proteste mit Straßenblockaden und großen Ausschreitungen gegeben. Fahrzeuge mit lebenswichtigen Sauerstoffflaschen waren nicht zu den Kliniken gekommen, Erkrankte waren aus diesem Grund gestorben. Seit einem Monat sinken die Infektionszahlen. Die Maskenpflicht bleibt bestehen. Man fragt sich, ob bald, wie in Europa, eine 2. Welle kommt.

Über die Proteste in Deutschland überrascht.
Ich habe in den letzten Monaten gelernt, mit Einschränkungen umzugehen, und stelle mich auf weitere in Zukunft ein. Bei meinem täglichen Blick auf die Medien in Deutschland überraschen mich die heftigen Reaktionen in der Bevölkerung gegen die vergleichsweisen milden Einschränkungen. Wird da eine Verunsicherung der Bevölkerung in nicht akzeptabler Weise für andere Zwecke genutzt? Unser Leben wird langfristig anders sein, als es in den letzten Jahrzehnten war. Was in unserem Leben wichtig ist, was wir brauchen und was nicht, wird neu bewertet werden. Für mich heißt es, Chancen zu erkennen.