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Mitglieder der Theatergruppe „Ojo Morado“ bei einem Volkstanz

Text: Matthias Schaider

Die Grenzen von Fiktion und realer Zeitgeschichte verschwimmen, wenn Stefan Gurtner Theaterstücke schreibt. Davon konnten sich auch die Besucher im Theater Mobile überzeugen, als der Schweizer Schriftsteller und Theaterregisseur mit seiner bolivianischen Schauspieltruppe in Zwingenberg zu Gast war.

Gurtners Hauptengagement liegt in seiner sozialen Arbeit, denn seit 1987 setzt er sich für Kinder und Jugendliche in Bolivien ein. Dazu gründete er zwei Einrichtungen, in denen von Armut oder Missbrauch gezeichnete junge Bolivianer wieder ein Lebensperspektive erhalten. Und genau hier setzt Gurtners besonderes pädagogisches Konzept an: In den Heimen erhalten die Kinder und Jugendlichen Zuflucht, Sicherheit und geregelte Mahlzeiten, aber seine theaterpädagogischen Erfahrungen sind mit ein wichtiger Faktor dabei, den Kindern wieder den Weg ins Leben zu zeigen. Das fängt bei der gemeinsamen Entwicklung der Theaterstücke an, geht über die Fertigstellung von Masken, Handpuppen, Kostümen und Bühnenbildern bis hin zu den Tourneen, die die bolivianischen Theatermacher alle paar Jahre nach Europa führt. Das alles hilft den Kindern und Jugendlichen dabei, die schrecklichen Ereignisse, die sie während ihrer Zeit auf der Straße erlebt haben, zu verarbeiten.

Mit drei Schauspielern und der Erzählerin Sabine Jorkowski entführte Stefan Gurtner die Besucher im Theater Mobile auf die Straßen Boliviens, wo für viele Kinder und Jugendliche Endstation ist. Dort müssen sie nicht nur mit Hunger und Gewalt kämpfen, auch die Staatsmacht in Form von korrupten Polizisten macht den Straßenkindern das Leben zur Hölle.

Im zweiten Teil wirft Gurtner einen Blick zurück auf die Eroberung der Inka und wirft dabei die Frage auf, welche Wahrheit die richtige sein kann. In einer anderen Geschichte geht es um den Verkauf von Wasserrechten, was die ohnehin schon ausgebeutete Bevölkerung noch tiefer ins Elend stürzt. In der nächsten Episode, eine Fabel, wird die Ausbeutung auf die Spitze getrieben, als sich das Volk gegenseitig beraubt.

Die Schauspiel-Gruppe stellt pantomimisch die vorgelesenen Geschichten dar. Die Schauspieler agieren dabei nicht auf der Bühne, sondern im Mittelgang und in den Seitengängen unmittelbar im Zuschauerraum, wodurch die Eindrücke dem Publikum noch eindringlicher dargebracht wurden. Bemerkenswert daran, dass die bolivianischen Akteure kein Deutsch verstehen und somit intuitiv spielen.

Der in mehrere kleine Stücke aufgeteilte Theaterabend zeichnete ein eindrucksvolles und zugleich beklemmendes Bild des politischen und sozialen Zustands in Bolivien. Besonders betroffen machte der Hinweis Stefan Gurtners, dass die Geschichten nicht frei erfunden sind, sondern er die Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen nacherzählt. Da Kritik am politischen System in Bolivien nicht gerne gesehen ist, arbeitet Gurtner mit Symbolbildern, die das Erzählte aber nicht weniger eindringlich wirken lassen. Nach knapp zwei Stunden ging ein ungewöhnlicher Theaterabend im Theater Mobile zu Ende.